Nein, dieses Mal hat mich das Buch nicht vom Regal der Buchhandlung herunter angeschrien. Ob ich es mitgenommen hätte, wenn es das getan hätte?
Weiß ich nicht, muss ich sagen. Ich hätte den Titel toll gefunden, aber wahrscheinlich hätte ich es ins Regal zurück gestellt.
Es war vielmehr so, dass mich Francis Fulton-Smith höchstpersönlich davon überzeugte, dass das Buch definitiv lesenswert wäre. Und zwar mit seinem Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse 2022.
Eigentlich stand die 30-Minuten-WG gar nicht auf meinem Plan. Den hatte ich, unerfahren wie ich war, bereits zuhause ausgeklügelt. Ein halber Tag auf der Buchmesse belehrte mich eines Besseren. Um es kurz zu machen: um die Mittagszeit meines ersten Messetages saß ich frustriert auf dem Boden irgendwo an der Wand der Messehalle drei und starrte auf den Plan, der mir mal wieder gezeigt hatte, dass Planen nicht so mein Ding ist. Am liebsten, ich bin ganz ehrlich, wäre ich einfach nach Hause. Ich hatte noch nicht einmal geschafft, mich grundlegend zu orientieren auf dem riesigen Gelände. Und dann entschloss ich mich, den Plan Plan sein zu lassen, lud mir die App runter, von der ich vorher nichts gewusst hatte, und diese spuckte aus, dass ganz in der Nähe ein paar Interviews stattfanden. In der 30-Minuten-WG. Endlich ein Ziel, das ich sogar fand. Das erste Interview, das ich hörte, war ein Knaller: Ian Kershaw. Schon seit meinem Studium der Geschichtswissenschaft eine wahre Legende für mich. Und dann blieb ich einfach sitzen.
Ich kannte Francis Fulton-Smith zwar nur vom Namen, aber der Titel des Buches klang so schön, dass ich wissen wollte, ob er vielleicht ein paar Ratschläge für mich parat hätte. Und er legte einen so authentischen Auftritt hin, dass ich darüber nachdachte, was hier los war. Denn wenn ein Schauspieler ganz offensichtlich auf der Bühne von seinen Emotionen überrollt wird, dann gibt es zwei Möglichkeiten:
- a) er schauspielert
- b) die Emotionen sind so groß, dass selbst er es nicht überspielen kann.
Ich setzte auf Antwort b) und kaufte mir das Buch. Sollte es trotzdem a) sein, dann hat auch die hervorragende Schauspielerei schon verdient, dass man mal einen Blick hinter die Kulissen eines Schauspielgenies wirft.
Fulton-Smith berichtet offen und schonungslos über die Verletzungen in seiner Kindheit, über die schlimme Zeit im Internat und seine Trennung. Es geht immer um seine Gefühle, nie darum, sich als Opfer darzustellen. Und er lässt uns teilhaben an seinem Weg „zurück ins Leben“. Vieles ist natürlich bekannt. Wir alle wissen, dass der Mensch häufig erst durch Krankheit, Leid und Trauma auf seinen Seelenweg geführt wird, sich erst dadurch entwickelt. Doch tut es gut, zu sehen: ich bin nicht allein mit dieser Erfahrung. Und es darf und wird sich etwas Gutes daraus entwickeln. Und es tut gut, wenn Menschen ganz klipp und klar das sagen, was man sich selbst nicht laut zu sagen getraut: es gibt da mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als das, über was wir normalerweise reden.
Und hier, wie immer ein Auszug aus dem Buch. Ganz am Ende des Buches sagt er etwas, was ich hier aufgreifen möchte, weil es mir aus der Seele spricht:
Zum Glück lässt mich das Spirituelle nicht los. Immer öfter spüre ich das Bedürfnis, mich an den Erfahrungen zu orientieren, die ich machen durfte. […] An der Erkenntnis, welche Macht die Gedanken haben. Dem Wissen, dass ich Baustellen im Keller meines Unterbewusstseins habe, die der Aufmerksamkeit und Heilung bedürfen. Nach all dem Scheitern und den Tränen habe ich immerhin eines begriffen: In meiner Welt beginnt alles in mir.
Francis Fulton-Smith: Der dunkelste Moment ist der vor Sonnenaufgang, München 2022, S. 226