Dreizehn Wünsche

Dreizehn Wünsche

Angestrengt starrte sie auf den glimmenden Zettel in der Räucherschale. Welcher Wunsch verbrannte wohl hier? Der zwölfte war es und gleich anschließend würde sie das Ritual vollenden und den dreizehnten Zettel aus der kleinen Holzkiste holen. Dann würde sie wissen, welchen Wunsch ihr das Universum zurückließ, damit sie sich selbst um ihn kümmern konnte. Es war so leicht gewesen, sich dreizehn Wünsche zu überlegen. Viel zu leicht.

Ihr Diensthandy klingelte. Georg war dran.

„Gloria, wir ham a Tote. Sie hängt in einem Baum. Ich bin in fünf Minuten bei dir.“

„Okay“, sagte Gloria, obwohl es natürlich nicht okay war, dass jemand im Baum hing. Sie schloss die Augen und merkte, wie sie plötzlich fröstelte. Die Kälte war wieder da.

Schnell erhob sie sich. Stiefel, warmer Mantel, Mütze. Warum war sie nochmal Kommissarin geworden? Sie wusste es nicht mehr. Schlüssel, Handy, Geldbeutel. Ihr Blick fiel auf die kleine Holzkiste. Wie so oft musste ihr eigenes Leben warten.

Seufzend zog sie die Haustür hinter sich ins Schloss und spürte den kalten Nieselregen in ihrem Gesicht. Hinter ihr hielt das Auto. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

„A gsunds Neus übrigens noch“, sagte Georg. „Immerhin fünf Tage im Neuen Jahr bis zum ersten Todesfall.“

„Ja, dir auch ein glückliches und gesundes Neues Jahr“, sagte sie. Sie hatte keine Lust mehr. Wenn man mit 35 so viele Leichen gesehen hatte, dann tat man sich ziemlich schwer mit dem Glücklichsein. Das wusste sie jetzt. „Wohin fahren wir?“

„Auf den Kordigast.“

Der Kordigast also. Wie oft war sie mit den Eltern durch den lichtdurchfluteten Wald gelaufen, bis ganz nach oben zum Gipfelkreuz, zum Aussichtspunkt. Und jetzt war auch diese Idylle kaputt.

Die Spurensicherung war bereits vor Ort. Gloria ließ die gespenstische Szenerie auf sich wirken. Verstohlen blickte sie sich um. Wo hing die Frau?

„Wir haben ein paar verstörte Leute drunten in die Gastwirtschaft gesetzt“, sagte einer der Polizisten. „Die waren komplett durchgefroren. Anscheinend haben die hier ein Ritual gefeiert.“

Ja. Wahrscheinlich. Viele Menschen feierten mittlerweile die Rauhnächte mit Ritualen. So wie sie.

„Im Januar?“, fragte Georg mit höhnischem Unterton. Der Polizist zog die Schultern in die Höhe.

„Solche Irren. Was ham Sie denn sonst noch so gefunden?“ Georg fixierte sie jetzt. Gloria bemühte sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck und starrte auf den Boden.

„Kerzen. Eine Menge Kerzen. Schwarze und weiße. Und Bänder, schwarze und weiße. Die Bänder waren um die Kerzen gewickelt“, sagte der Polizist dienstbeflissen.

„Kerzen. Aha. Was haben die denn damit gemacht? Habt‘s ihr das rausgekriegt aus denen Verrückten?“

„Die haben was von einem Ritual erzählt. Der Schamane, der das Ritual geleitet hat, hat ihnen am Anfang irgendwas erzählt, und dann haben sich alle einen Platz gesucht, an dem sie in Ruhe nachdenken konnten. Aus irgendeinem Grund haben sie beim Nachdenken immerzu Bänder um die Kerzen gewickelt. Man muss halt nicht alles verstehen, oder? Währenddessen hat der Schamane getrommelt. Nach einer Stunde haben sie sich an der Feuerschale wieder getroffen. Dort haben sie die Kerzen reingestellt und angezündet.“

Gloria schluckte. Sie hatte von dem Ritual gehört. Es war nichts Böses. Man hielt inne, blickte zurück und band alles an die schwarze Kerze, was man im alten Jahr lassen wollte. Und dann schaute man voraus und band alles an die weiße, was man sich fürs neue Jahr wünschte.

„Diese spinnerten Esoteriker“, sagte Georg. „Und was war mit der Toten?“

„Sie war am Anfang dabei“, sagte der Polizist, „aber sie kam nicht zurück zur Feuerschale.“

„Hat man sie nicht vermisst?“

„Nein, sie war wohl alleine da. Niemand hat am Anfang gemerkt, dass irgendjemand fehlte. Sie haben einfach noch lange um das Feuer gesessen. Und dann wollten sie wohl zurück, und da haben sie das Mädchen gesehen. Kommt mit, ich zeig euch, wo.“

Gloria ballte die Hände zu Fäusten und vergrub sie tief in der Jackentasche. Widerwillig folgte sie dem Polizisten. Sie sah das Mädchen schon von weitem. Gekleidet in einem weißen Leinensommerkleid hing sie im Baum. Um ihren Hals baumelten an langen Kordeln Kerzen. Sie zählte. Es waren zwölf. Sie waren alle schwarz. Zwölf schwarze Kerzen. Ihr wurde schummrig vor den Augen.

 

   * * *

 

Eine gefühlte Ewigkeit später schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf und ging, ohne auch nur Schuhe und Jacke auszuziehen, in ihr Wohnzimmer. Dort stand die kleine Räucherschale. Die Asche von zwölf Zetteln lag darin.

Mit zitternden Händen nahm sie den dreizehnten Zettel aus der kleinen, hölzernen Kiste.

„Ich wünsche mir“, stand darauf in ihrer eigenen, wunderschön gleichmäßigen und klaren Handschrift, „den Mut, so zu leben, wie ich es möchte.“

   * * *

 

„Georg“, sagte sie, als er endlich abgenommen hatte, „ich kündige!“ Und damit legte sie auf und atmete tief ein. Ihr dreizehnter Wunsch war erfüllt. Die zwölf anderen hatten Zeit.

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